Cihan Tu?al: Das Scheitern des türkischen Modells Wie der arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte

Sachliteratur

Das Buch zeigt, wie und warum das neoliberal-islamische Demokratie-Modell in der Türkei gescheitert ist.

Recep Tayyip Erdoğan im polnischen Senat, November 2013.
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Recep Tayyip Erdoğan im polnischen Senat, November 2013. Foto: Michał Józefaciuk (CC BY-SA 3.0 cropped)

25. September 2017
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Cihan Tuğal will die Ursachen der aktuellen Krise der Türkei erklären. Jenseits von „Erdogans Wesen ist böse“-Schemata liegt für den Professor aus Berkeley die Erklärung in der Krise des neoliberal-islamischen Demokratie-Modells, das er „Türkisches Modell“ (S. 31) nennt. Das hört sich lesenswert an. Doch warum muss ein solch interessantes Buch so schlecht aus dem Englischen(!) übersetzt sein? Der Lesefluss wird durch holprige Satzkonstruktionen und Wortzusammensetzungen immer wieder unterbrochen. Dies schadet zwar nicht den generellen Aussagen, erschwert die Verinnerlichung der vorgebrachten Argumente dennoch unnötig.

Das „türkische Modell“

Nun zum Inhalt. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Türkei. Aber auch Ägypten, Tunesien und der Iran spielen bei einer möglichen Adaption des Türkischen Modells eine Rolle. In dieser Rezension wird allerdings vor allem auf die Darstellung der Türkei eingegangen. Was ist für den Autor überhaupt das „Türkische Modell“?

„Mit zwei Worten lässt es sich als ‚islamischer Liberalismus' beschreiben: eine Verbindung aus formaler Demokratie, freier Marktwirtschaft und einem (moderat) konservativen Islam. Das Türkische Modell wurde von Geschäftsleuten in aller Welt gepriesen, von internationalen Medien gefeiert, und von den regionalen und nationalen Eliten begrüsst“ (S. 17).

Das Modell sei die Antwort auf die „Krise säkularer Diktaturen und neoliberaler Entwicklungsprogramme“ (S. 49) im Nahen Osten gewesen und habe dem Westen gleichzeitig zur „Integration der islamischen Herausforderung in die bestehende regionale Ordnung“ (S. 103) gedient.

Mit diesem Modell wollte die Türkei, mit freundlicher Unterstützung des Westens, also zur regionalen Hegemonialmacht aufsteigen. Dabei wird die Entstehung explizit in einen internationalen sowie türkisch-nationalen Umbruch eingebettet: „Die politisch-militärische Krise des Hegemons [also der USA; Anm. ks] artikuliert sich schliesslich also auch in einer ökonomischen Krise. Das sogenannte ‚Türkische Modell' war ein Lebensretter in diesen schwierigen Zeiten“ (S. 331). „Der Todeskampf der alten Ordnung ebnete letztlich den Weg für das Türkische Modell“ (S. 16) und war gleichzeitig „als Waffe gegen das Iranische Modell“ (S. 18) gerichtet. Der Westen spielte dabei eine massgebliche unterstützende Rolle, da das Türkische Modell durch und durch neoliberal und auf eine Einhegung und Einbindung islamistischer radikaler Kräfte setzte. Der Internationale Währungsfonds lieferte folgerichtig massive finanzielle Unterstützung. So basierte die wirtschaftliche Entwicklung in den ersten zehn Jahren AKP-Regierung vor allem auf Auslandskapitalinvestitionen, die Megabauprojekte innerhalb des Landes ermöglichten.

Vor allem europäische und US-Medien spielten laut Tuğal bei der Propagierung des AKP-Modells eine wichtige Rolle. „In den 2000er Jahren forderten grosse westliche Medien immer wieder, die Muslime sollten dem Türkischen Modell folgen“ (S. 22). „So entwickelte sich zum Beispiel der Economist, der schon seit zehn Jahren von der Türkei fasziniert war, nach der Machtübernahme der AKP und stärker noch nach den Revolten in Tunesien und Ägypten, zu einem militanten Werber für die Vorzüge des Türkischen Modells“ (S. 23). Zu kritisieren ist hier allerdings, dass diese Behauptung ohne eine systematische Untersuchung der Medienberichterstattung in den Raum gestellt und nur anhand exemplarischer Beispiele argumentiert wird. Zur Methode schreibt Tuğal nur: „Ich habe […] die wichtigen panarabischen und ägyptischen Medien […] verfolgt. […] Ausserdem habe ich persönlich an Demonstrationen und Revolten in der Türkei und in Ägypten teilgenommen“ (S. 44). Eine empirische Überprüfung dieser Aussagen ist damit nicht gegeben.

Passive Revolution von oben

Das Türkische Modell begann sich bereits nach dem „erfolgreichen“ Militärputsch 1980 in der Türkei herauszubilden und stellte innerhalb des Landes ein Instrument zur gesellschaftlichen Integration dar. Denn der kemalistische Säkularismus hatte zuvor grosse Teile der religiösen Bevölkerung von Macht und gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Die erst 2001 (im Jahr ihres Wahlerfolgs) gegründete AKP schaffte es, genau diese benachteiligten Schichten und Klassen für ihr neues Projekt zu mobilisieren und zu gewinnen. Anatolische Kleinunternehmer_innen bildeten dabei die neue AKP-Elite und nicht mehr die mit dem Militär eng verbandelten Kemalisten.

Voraussetzung des Türkischen Modells war eine passive Revolution von oben. Dabei orientiert sich Tuğal in der Begrifflichkeit an dem italienischen Kommunisten und Theoretiker Antonio Gramsci: „Während einer passiven Revolution wird dagegen eine beginnende Mobilisierung von unten nach oben in vorhandenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen ‚absorbiert'“ (S. 36). Sie „zieht eine gründliche Neugestaltung bestimmter Politiken und Dispositionen nach sich, selbst wenn die Gesamtstrukturen unverändert bleiben“ (S. 37). In der Türkei stellte die passive Revolution das neoliberal-konservative Militärregime nach dem Putsch 1980 auf neue sicherere Füsse, weg vom Kemalismus, hin zu einem, auch vom Westen geförderten, „sanften Islam“ unter neoliberalen Vorzeichen. Die unzufriedene Bevölkerung konnte damit von oben beruhigt und eingebunden werden. So konnte ein (Achtung, wieder Gramsci) neuer Machtblock, mit der Unterstützung auch von informell Beschäftigten und Teilen der fortschrittlichen universitären Intelligenz, die Führung übernehmen und hegemonial werden.

Der Plan des Westens war, das Türkische Modell, auch als politisches Gegensystem zum Iran, auf andere Länder zu übertragen (Syrien, Ägypten, Tunesien). Doch Tuğal argumentiert, dass dieses Vorhaben von Anfang an zum Scheitern verurteilt war, da das Modell sich überhaupt „nur in Relation zu den anderen“ (Iran oder Ägypten) behaupten konnte. Ohne dieses „Andere“ kein Türkisches Modell.

Der Einfluss des Arabischen Frühlings und der Gezi-Proteste

Mit dem brutalen Militärputsch in Ägypten im Jahr 2013 und der Absetzung der mit der AKP verbundenen Muslimbrüder wurde der Übertragung des Modells ein Riegel vorgeschoben. Es begann zu schwanken. Nach dem Arabischen Frühling und der anschliessenden Restauration der Machtverhältnisse stellten für Tuğal vor allem die Gezi-Proteste im Juni 2013 einen Wendepunkt dar. Die Widersprüche des Systems begannen nun aufzubrechen, denn die Ergebnisse des neoliberal-islamischen Modells waren eindeutig und doch irgendwie altbekannt: „Nach der zehnjährigen Herrschaft der AKP entfällt auf das oberste ein Prozent der türkischen Bevölkerung mehr als die Hälfte des nationalen Wohlstands“ (S. 173), „im Jahr 2013 kamen durchschnittlich pro Tag ungefähr vier Arbeiter ums Leben“ (S. 178).

Der Gezi-Aufstand wurde dabei interessanterweise vor allem von jungen Menschen des Mittelstands getragen, die in den Jahren zuvor selbst vom Ausbau des Bildungssystems profitiert hatten. Der Aufstand ist für Tuğal der „Dolchstoss in die Front der passiven Revolution“ (S. 299) und repräsentiert das Ende des Türkischen Modells. Ab jetzt musste der Zwang, der die Hegemonie der AKP panzerte und bisher nur zur Unterdrückung von Kurden und Linken diente, stärker zum Einsatz kommen. Das Türkische Modell wurde von nun an immer offener autokratisch und konnte sich Unterstützung nur noch zum Teil über Freiwilligkeit organisieren: „Während vor der Revolte die Zustimmung die Gewalt überwog, gewann nun die Gewalt die Oberhand“ (S. 318). Tuğal argumentiert jedoch, dass eine nachhaltige Demokratisierung unter den neoliberalen Vorzeichen des „Türkischen Modells“ niemals wirklich möglich gewesen sei. Dies liege „im Wesen des Neoliberalismus: Er führt zu einer gesellschaftlich erdrückenden Welt, und zwar selbst für die Gruppen, die er bereichert“ (S. 35).

Offen bleibt im Buch, ob das Modell in der Lage ist, sich von innen heraus neu aufzustellen. Dieser Versuch der Erneuerung ist seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 im massiven Staatsumbau zu beobachten, mit der Entlassung zehntausender Menschen, mit einer Umschichtung des Kapitalbesitzes von Gülen-nahen Unternehmensgruppen und auch einer Umstrukturierung des türkischen Militärs. Die seitdem versiegenden internationalen Geldströme und die Abwertung der Lira werden jedoch weiter zur Instabilität des Modells beitragen und zeugen davon, dass es keine grosse Unterstützung des Westens mehr geniesst.

Fehlende Faktoren

Leider spielt der Putschversuch in dem Buch keine Rolle. Die Arbeiten zur englischen Originalversion wurden Ende 2014, Anfang 2015 beendet. Dies wird im aktualisierten Vorwort des Buches auch erwähnt. Allerdings lesen sich die einleitenden Worte eher wie eine Negativwerbung, dieses Buch aufgrund seiner partiellen Inaktualität nicht zu lesen: „Seit dem Abschluss der Arbeit am Manuskript dieses Buches Ende 2014 haben mehrere einschneidende Ereignisse die Welt erschüttert“ (S. 7). Die Einführung hätte also eher als Nachwort dienen können.

Zwei Punkte werden von Tuğal nicht ausreichend beachtet. Der kurdische Faktor spielt im Buch keine besonders grosse Rolle. So führt er aus:

„Die wachsende kurdische Autonomie gehörte zu jenen dynamischen Faktoren, die schliesslich das Ende des Türkischen Modells herbeiführten, was zur Folge hatte, dass der türkische Staat dann sowohl gegen die syrischen Kurden als auch gegen die Kurden im eigenen Land zunehmend aggressiver vorging und verdeckte Beziehungen zu ISIS aufbaute“ (S. 223).

Begründet werden diese „dynamischen Faktoren“ allerdings nicht weiter. Auch auf die Rolle des Friedensprozesses zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Bewegung zwischen 2013 und 2015 wird nicht eingegangen. Der zweite fehlende Faktor ist die Bewegung um den islamischen Prediger Fethullah Gülen, die zu Beginn der AKP-Regierung eine stabilisierende, machterhaltende Wirkung hatte. 2013 kam es zum Bruch innerhalb dieses Bündnisses. Welche Rolle dieses Zerwürfnis im Scheitern des „Türkischen Modells“ einnimmt, wird nur oberflächlich behandelt, könnte aber interessante Einsichten in die Schwierigkeit der Einbindung gewisser Teile der Bevölkerung in das hegemoniale AKP-Projekt bringen.

Insgesamt ist dieses Buch jedem zu empfehlen, der jenseits der oft sehr oberflächlichen Analysen (in deutschen Medien) einen tieferen Einblick in die Türkei erhalten will. Gramscis Theoriebrille erleichtert es dabei, Zusammenhänge über einen ökonomischen Reduktionismus hinaus zu betrachten und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und die Bildung von Blöcken ins Visier zu nehmen. Das grosse Problem der Opposition in der Türkei im Jahr 2017 ist, dass sie bisher noch nicht in der Lage war, einen eigenständigen Machtblock der Solidarität und Gleichberechtigung zu bilden, der hegemonialen Einfluss auf eine Bevölkerungsmehrheit ausüben kann. Die Lektüre dieses Buchs kann dazu beitragen, in der Opposition dieses Verständnis und das entsprechende strategische Ziel deutlicher zu umreissen. Hoffentlich ist die Übersetzung ins Türkische besser.

Kerem Schamberger
kritisch-lesen.de

Cihan Tuğal: Das Scheitern des türkischen Modells. Wie der arabische Frühling den islamischen Liberalismus zu Fall brachte. Kunstmann, München 2017. 400 Seiten, ca. 34.00 SFr., ISBN 978-3-95614-171-3

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